Ausstellungstext

Die Frau aus Gips

Ein Akt des NS-Bildhauers Kurt Schmid-Ehmen

Die Frau aus Gips bildet den Auftakt einer Ausstellungsreihe, in der wir jeweils ein Objekt der Sammlung und seine Geschichte vorstellen.

Das Fundstück

Als wir den lebensgroßen Frauenakt im Stadtarchiv wiederentdeckten, war uns zunächst nicht klar, dass wir mit ihm in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte eintauchen würden. Dieser Text folgt unseren Recherchen. Er ist länger als ein normaler Ausstellungstext, denn er ist nicht Erklärung, sondern Erzählung.

Zunächst war die Frauenfigur namenlos. Sie hat zahlreiche Fehlstellen und nur einen Arm. Aus Gips ist sie gegossen, weshalb sie leicht bricht. Auf den ersten Blick sieht sie fast griechisch aus, streng gestaltet – Gesicht und Haare in scharfen Linien geformt. Die Frau aus Gips ist klassisch schön, doch ohne individuelle Züge. Sie ist nicht das Abbild eines realen Menschen, sondern ein Ideal. Auf der Sockelplatte, etwas versteckt, fanden sich Signatur und Datierung: „Schmid-Ehmen 1939“.

Der Künstler

Kurt Schmid-Ehmen wurde im Oktober 1901 in Torgau geboren. Er war vierzehn, als der Erste Weltkrieg begann. Der Sohn eines Beamten träumte von einer Karriere als Offizier bei der Marine. Als er das Gymnasium verließ, war der Krieg allerdings vorüber und alle Schiffe entwaffnet. Schmid-Ehmen entschied sich alternativ für die Kunst. Er zog nach Leipzig, um Bildhauerei zu studieren. Von der Kunstakademie wechselte er nach einigen Jahren in eine Bildhauer- und Steinmetzlehre, um das Handwerk zu üben. Doch nicht Handwerker, sondern Künstler wollte er sein, und so zog es ihn, wie viele andere, an die traditionsreiche Münchner Kunstakademie. Dort wurde er Meisterschüler von Bernhard Bleeker und fand in ihm sein künstlerisches Vorbild. Der zwanzig Jahre ältere Bleeker engagierte sich lebhaft für den Erhalt konservativer ästhetischer Werte in der Kunst. Nicht zuletzt diese Haltung hatte ihn zum Experten in der Planung und Gestaltung von Kriegerdenkmälern und Heldenfriedhöfen werden lassen. Aus Bleekers Meisterklasse ging eine erstaunliche Zahl von Bildhauern hervor, die während des NS-Regimes zu Ruhm und öffentlichen Aufträgen gelangten. Er selbst trat bereits 1932 in die NSDAP ein, noch vor ihm auch sein Schüler Schmid-Ehmen sowie dessen Ehefrau, die Konzertpianistin Hetty Haelssig.

Die Adler

Den Parteieintritt begründeten die Schmid-Ehmens später mit ihrer Not während der Weltwirtschaftskrise. „Ganz unpolitische Menschen“ seien sie im Grunde gewesen, doch der „Hypnose“ Adolf Hitlers erlegen. Von Paul Ludwig Troost, dem Lieblingsarchitekten Hitlers, erhielt Schmid-Ehmen bereits unmittelbar nach der Machtübernahme den ersten Auftrag. Ein „Ehrenmal“ war an der Münchner Feldherrnhalle zu schaffen. Und Schmid-Ehmen schuf: Über einer vergoldeten Bronzetafel mit den Namen der beim Hitler-Putsch getöteten Aufständischen erhob sich ein Adler mit Kranz und Hakenkreuz in den Krallen. Das war der Beginn einer Karriere, in der Schmid-Ehmen zum „Adlermacher“ des NS-Regimes aufstieg. Er entwarf die Hoheitszeichen für fast alle monumentalen NS-Bauprojekte, unter anderem für den „Führerbau“, den Königsplatz und das „Haus der Deutschen Kunst“ in München, das „Reichsparteitagsgelände“ in Nürnberg, die „Neue Reichskanzlei“ in Berlin. Heute noch erhalten sind Schmid-Ehmens Adler auf dem Deutschen Museum, weil nach dem Krieg die dazugehörigen Hakenkreuze leicht entfernt werden konnten. Sein größter Erfolg – auch wortwörtlich – war wohl der Adler auf dem deutschen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris. Der Vogel allein maß in der Höhe über 5 Meter, der von Albert Speer geplante Bau darunter knapp 58 Meter. Damit überragte das sogenannte Deutsche Haus den gegenüberliegenden sowjetischen Pavillon, auf dessen Dach ein gigantisches Arbeiterpaar einen Hammer und eine Sichel emporreckte, um 6 Meter. Die symbolträchtige Überflügelung war kein Zufall: Speer waren die geheimen Pläne der russischen Architekten vor Baubeginn zugespielt worden.

Das Regime

Mit den Adlern im Rücken erhielt Schmid-Ehmen auch Aufträge für Porträtbüsten hoher Funktionäre und für figürliche Darstellungen – wie unsere Frau aus Gips. Sie trägt ganz buchstäblich nichts an sich, was ihr eine eindeutige ideologische Aussage beimisst. Ist sie also tatsächlich nur ein Frauenakt in klassischer Manier? Gleichzeitig finden sich für einen „unpolitischen Künstler“ doch viele Staatsaufträge, Hoheitszeichen und Hakenkreuze im Werk Schmid-Ehmens. Welche Überzeugungen vertrat er also wirklich?

„Wenn der Staat einem Bildhauer oder einem Architekten Aufgaben erteilt und ihnen dann für ihre künstlerischen Leistungen hohe Ehrungen verleiht, dann kann man sie doch nicht für politisch schuldig erklären.“ – Kurt Schmid-Ehmen 1946

Kurt Schmid-Ehmen gehört zur sogenannten Kriegsjugendgeneration – geboren zwischen 1900 und 1910. Er wuchs im Umfeld eines wachsenden Nationalismus auf, geprägt von aufgeheizten Feindbildern, Heldenverehrung und Kriegsbegeisterung, doch hatte er keinen Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg erlebt. Gemeinschaften mit militärischer Prägung und nationaler Gesinnung übten eine starke Anziehung auf seine Generation aus. So auch die sogenannte Sturmabteilung kurz SA, Saalschutz und Kampftruppe der NSDAP. Sie vermittelte Disziplin, Stärke und das Bild traditioneller Männlichkeit. Gewalt gegen politisch Andersdenkende, aber auch gegen Kirchenverbände und jüdische Einrichtungen gehörte offen zum Programm der SA. Mit dem Beitritt zur NSDAP trat Kurt Schmid-Ehmen auch in diese paramilitärische Kampforganisation der Partei ein. Er durchlief die Dienstränge vom Scharführer bis zum Obersturmführer. Das spricht gegen eine nur oberflächliche Berührung des Künstlers und Menschen Schmid-Ehmen mit dem NS-Regime. Unmittelbar nach der Machtergreifung nahm auch seine Karriere als Künstler Fahrt auf. Allein im ersten Jahr besuchte Hitler zwei Mal das Atelier Schmid-Ehmens. Gemeinsam begutachteten sie den Verlauf der Arbeit am Adler für die Feldherrnhalle. Ungefähr zeitgleich wurde der Künstler erstmals in der Presse besprochen. Schmid-Ehmen gelangte zu Bekanntheit. Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Präsident der Reichskulturkammer, ernannte Schmid-Ehmen 1935 zum Mitglied des Präsidialrats der Reichskammer der bildenden Künste. Schmid-Ehmen nahm die Ernennung an. Im selben Jahr wurde er noch eine Ebene höher, in den Reichskultursenat der Reichskulturkammer berufen. Dabei handelte es sich um das politische Organ, das die Gleichschaltung und Überwachung des gesamten deutschen Kunst- und Kulturlebens aktiv ausführte. Und Schmid-Ehmen nahm an. Er empfing Ehrungen und einen Professorentitel von Hitler persönlich, wurde 1938 als Ehrengast auf den Reichsparteitag eingeladen. Und Schmid-Ehmen nahm an. Hitler kaufte Schmid-Ehmens Speerträgerin, eine in Bronze ausgeführte weibliche Aktfigur, für 18 000 Reichsmark. In der Rangordnung der staatlich geförderten Bildhauer des NS-Regimes rückte er ganz nach oben – direkt hinter Josef Thorak und Arno Breker. Er wurde auf große Propagandaausstellungen eingeladen und gelobt für seine vehemente Ablehnung der Moderne. Damit vertrat er die Linie der NS-Kulturideologie. Mehr als 17 000 Werke, hauptsächlich von Künstlern der Moderne wie Max Beckmann, Lovis Corinth, Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner und vielen anderen, wurden als „krank“ und „rassisch minderwertig“ aus deutschen Museen entwendet. Einen Höhepunkt erreichte der Kampf gegen alles Fortschrittliche in der Kunst mit der Propaganda-Schau Entartete Kunst, ausgehend von München im Jahr 1937. Ganz bewusst parallel präsentierte die Große Deutsche Kunstausstellung programmatisch im „Haus der Deutschen Kunst“ das von den Nationalsozialisten geförderte Kunstschaffen. Auch Schmid-Ehmen bemühte sich um Teilnahme. Er schuf: einen Adler mit Hoheitszeichen – aber nur einen kleinen –, gehalten in der erhobenen Hand einer nackten Frauenfigur. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Schmid-Ehmen war dennoch in der Ausstellung vertreten, mit Porträtbüsten von NS-Funktionären.

Die Nackten

Makellose nackte Körper waren als Sinnbild für Reinheit, Stärke, Schönheit und rassische Überlegenheit im Nationalsozialismus beliebt. Die Nacktheit stand für die Rückkehr in eine mythische Ursprünglichkeit und den Kampf gegen die Freiheit und Individualität der Moderne. Frauenfiguren verkörperten dabei Ideologie und Mythologie, Männerfiguren die Wehrhaftigkeit.

„Wir haben einen starken, einfachen, monumentalen Willen zu einer überpersönlichen Öffentlichkeit. Nicht mehr das Porträt des Einzelnen, sondern die symbolkräftige menschliche Gestalt als Gleichnis höherer Ordnung, nicht das Individuum, sondern der Mythos – das ist das innere Ziel, dem auch die Plastik unserer Zeit zustrebt.“ – Völkischer Beobachter

Die Frau aus Gips reiht sich hier ein. Unter Abbildungen jüngeren Datums wird sie meist schlicht als „weiblicher Akt“ bezeichnet. Doch auch sie war nicht einfach Aktdarstellung, sondern Sinnbild. Aber wofür? In ihrer heute fehlenden Hand trägt sie auf älteren Bildern einen Zweig – auch das ist noch kein eindeutiger Hinweis. Zur Identifizierung blieb nur eine eingehende Recherche in den Bildarchiven. In einer Ausgabe der NS-Kunstzeitschrift Das Bild von 1939 sowie ein Jahr später in der Illustrierten Zeitung fand sich das Foto eines Entwurfs für eine Bronzefigur Schmid-Ehmens. Sie ist der Frau aus Gips verblüffend ähnlich – und sie wurde für eine reichlich prominente Stelle entworfen. Auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg hatte Albert Speer den sogenannten Goldenen Saal geschaffen, eine riesige Halle, die für den „Reichsparteitag des Friedens“ erstmals genutzt werden sollte. Die Großveranstaltung mit dem rückblickend verstörend zynischen Namen war für den 2.– 11. September 1939 geplant und wurde kurzfristig abgesagt. Stattdessen überfiel das Deutsche Reich am 1. September Polen und löste damit den Zweiten Weltkrieg aus. Der Saal wurde niemals vollständig fertiggestellt. Vier monumentale Figuren fehlen. Doch Schmid-Ehmen hatte sie bereits entworfen, zwei männliche und zwei weibliche Akte als ideologische Sinnbilder für Glaube, Kampf, Ehrung und Sieg. Die Frau aus Gips ist der Entwurf für die (Toten-)Ehrung. Als Bronzeguss ausgeführt wären die Figuren doppelt lebensgroß gewesen. Sie sind nie produziert worden. Ob das Starnberger Gipsmodell als Teil des Entwurfs entstand oder gar der Versuch einer späteren Weiterverwendung ist, wissen wir nicht. Sicher ist, dass es sich nicht um ein fertiges Werk, sondern um eine Vorarbeit handelt.

Der Starnberger

Die Frau aus Gips kam vermutlich mit ihrem Schöpfer nach Starnberg. Dessen Karriere endete mit der NS-Herrschaft – zumindest weitgehend. Die von ihm geschaffenen Adler wurden demontiert, sein riesiges goldenes Hakenkreuz auf dem Reichsparteitagsgelände wurde gesprengt. Er selbst musste sich einem Spruchkammerverfahren stellen, um seine Rolle im NS-Regime zu klären. Der Bildhauer, der als „Sinnbildner des Reichs“ berühmt geworden war, wurde als „minderbelastet“ eingestuft. Er zahlte eine Geldstrafe von 200 DM und wurde nicht weiter beachtet. Das Ehepaar Schmid-Ehmen zog 1947 nach Starnberg. Rege nahmen sie am Vereinsleben des 1950 gegründeten Kunstkreises Buzentaur teil. Schmid-Ehmen hielt eine Reihe von Vorträgen. Konnte aber gerade der Kunstkreis Buzentaur der richtige Ort für einen Neuanfang sein? Der langjährige Vorsitzende Rudolf Zirngibl erinnert sich in seiner Autobiografie, dass der Verein „eigentlich auf Kunstschaffende zurückgeht, die im Dritten Reich Erfolge hatten und sich nach dem Krieg im Starnberger Raum zusammengefunden hatten.“ Schmid-Ehmen blieb den alten Werten treu. Er stand der rechtsextremen Vereinigung „Deutsches Kulturwerk Europäischen Geistes“ nahe. Diese war ebenfalls 1950 vom ehemaligen NS-Fachschaftsleiter für Lyrik und SA-Mitglied Herbert Böhme gegründet worden. Eine „volksbewusste und volkstreue Gemeinschaft“ im Kampf gegen alles Moderne in Literatur und Kunst sollte sie sein. Kurt Schmid-Ehmen und seine Frau Hetty wirkten regelmäßig an Liederabenden, Kulturtagen und Kongressen mit – er mit Kunstwerken und Vorträgen und sie als Pianistin. Den Gründer porträtierte Schmid-Ehmen gar in einer Büste – vielleicht ein später Dank, denn Böhme hatte zu NS-Zeiten Lobgedichte auf Schmid-Ehmens Adler verfasst. Die Reihen blieben geschlossen und die Netzwerke wirkten weiter. In seinen Vorträgen und Texten, auch für den Kunstkreis Buzentaur, war Schmid-Ehmen ganz und gar künstlerischer Ideologe. Scharf griff er die Moderne und zeitgenössische Bewegungen an. In ihnen erkannte er weiterhin das Kranke und Verwirrte. Jenseits der Kunst beschrieb er sich selbst als verängstigt und verloren. Einen Textentwurf und ein Bildnis aus der Nachkriegszeit betitelte er Der deutschen Seele Not. Die Not all der anderen, all der Verfolgten und Angehörigen der im Krieg Ermordeten, sah er nicht oder wollte er nicht sehen. Die Stunde Null nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes hatte er als tiefen persönlichen Sturz und Sieg der verhassten Moderne erlebt. Er suchte Halt in alten Wertesystemen und Seilschaften. Kurt Schmid-Ehmen starb am 15. Juli 1968 in Starnberg. Die Frau aus Gips stammt vermutlich aus seinem Nachlass.