Dr. Hans Deuschl, vor 1945, Foto: unbekannt

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Die Stunde Null in Starnberg:
Entnazifizierungen
 

von Angela Müller

Die vier Siegermächte hatten sich für Deutschland auf eine Politik der Entnazifizierung verständigt, deren Ziel die vollständige Beseitigung der nationalsozialistischen Ideologie war. Das gesamte öffentliche Leben sollte „politisch gesäubert“ werden. Die amerikanische Militärregierung beschloss daher die systematische Entfernung von allen NS-Funktionären und politischen Beamten aus ihren Positionen.

Zunächst wurden nach dem Einmarsch mit der Entlassung von Behördenleitern, Bürgermeistern und Landräten begonnen. Das CIC (Counter Intelligence Corps) fahndete außerdem nach Personen, die auf einer 1944 von Briten und Amerikanern erstellten Liste standen, und in einen „automatischen Arrest“ genommen wurden. Rein schematisch wurden die Betroffenen aufgrund ihres Ranges in der NSDAP oder anderen NS-Organisationen als Verbrecher oder Gefährder betrachtet. Zu ihnen gehörten in Starnberg Landrat Max Irlinger und der Mediziner, Ärztefunktionär und SS-Oberführer Hans Deuschl (*1891 in Grafing), der Ende 1943 von Himmler persönlich zum Bürgermeister der Stadt gemacht worden war. Er bezog die Villa des jüdischen Arztes Adolf Franck, der mit seiner Familie Starnberg verlassen musste. Deuschl und Irlinger wurden nach ihrer Verhaftung ins Internierungslager Gauting gebracht. Maria Irlinger berichtet:

„In einem Jeep brachten [zwei Amerikaner] die beiden Männer nach Gauting. Dort hatten die Amerikaner ein großes Waldgebiet mit einem Stacheldraht umzäunt. Eine Unmenge Soldaten und Zivilisten waren bereits dort festgehalten. (…) Auch Dr. Irlinger und Dr. Deuschl wurden hineingebracht und ihrem Schicksal überlassen. (…) Irlinger und Deuschl versuchten eine kleine Mulde in den Boden zu graben und dann setzten sie sich hinein und bedeckten sich mit Irlingers altem Mantel.“

Im Juli 1945 weiteten die Amerikaner den Kreis der von der Entnazifizierung Betroffenen aus. Nun mussten Inhaber bestimmter Schlüsselpositionen einen 131 Punkte umfassenden Fragebogen ausfüllen, dessen Auswertung die Entlassung zur Folge haben sollte, wenn bestimmte formale Vorgaben erfüllt waren, z.B. Mitgliedschaft in der NSDAP vor dem 1. Mai 1937. Betroffen waren auch alle Mitglieder der SS und Offiziere der Waffen-SS und der SA, außerdem Spitzenbeamte unabhängig von einer Parteimitgliedschaft. Der Schematismus der Amerikaner stieß bei der deutschen Bevölkerung auf starke Ablehnung. Der Unwillen, sich mit der eigenen Mittäterschaft auseinanderzusetzen, stieg dadurch eher.

Mit dem Befreiungsgesetz vom 5. März 1946 ging die Aufgabe der Entnazifizierung auf deutsche Stellen über. Ein entscheidender Unterschied zu den bisherigen Bestimmungen lag darin, dass nach individueller Verantwortlichkeit, nicht mehr nach formaler Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation geurteilt wurde. Grundlage war ein neu geschaffenes Spruchkammerverfahren, das prinzipiell die gesamte Bevölkerung über 18 Jahre überprüfte. Es wurden fünf Gruppen gebildet: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Die Einstufung wurde durch die Spruchkammern vorgenommen, die aus einem Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern bestanden. Zudem wurde ein Kläger bestellt. Noch Mitte September 1946 waren von den Vorsitzenden und Klägern erster Instanz nur 5 % Juristen. In Starnberg war beispielsweise der Schriftsteller Johannes Tralow eine Zeitlang Vorsitzender. Die Postenvergabe wurde, wie überall, schnell Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen. Ihren Sitz hatte die Spruchkammer Starnberg im Amtsgericht.

Die Praxis der Spruchkammern führte zu einer großzügigen Rehabilitierung der Verantwortlichen. Auch Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption waren keine Seltenheit. Für einen großen Kreis ehemaliger Nationalsozialisten stellte die faktisch härteste Strafe daher die Haft in den primitiv ausgestatteten Internierungslagern dar. Irlinger und Deuschl waren von Gauting aus in ein Lager nach Ulm gebracht worden, von dort nach Ludwigsburg. Schließlich gelangten sie ins Lager Kornwestheim. Maria Irlinger berichtet:

„Der kleine Raum, den Dr. Irlinger mit 29 anderen teilte, hatte an beiden Seiten 10 Doppelpritschen. Dazwischen lag ein schmaler Gang. Die Inhaftierten lagen oder saßen auf ihren Lagern. Sie konnten den Raum auch verlassen und draußen im eingezäunten Hof herumgehen.“

Die schlechten Bedingungen führten zu Verbitterung und Hass gegen die Amerikaner. Die ehemaligen Träger der NS-Herrschaft fühlten sich als ungerecht behandelte Opfer. Im Juli 1946 wurde die Errichtung von Spruchkammern in den Lagern angeordnet, doch durch einen Kurswechsel in der amerikanischen Politik 1948, der Westdeutschland zum Partner im Kampf gegen den Kommunismus zu machen, kam es zum raschen Abschluss der Entnazifizierung und zur Auflösung der meisten Lager. Deuschl gehörte zu denen, die am längsten interniert waren. Während Irlinger sich der Haft durch Flucht entzog, durchlief Deuschl bis zum 15. Mai 1948 zwölf verschiedene Lager. Nach den formalen Kriterien gehörte er in die Gruppe I der Hauptbelasteten. Am 18. Oktober 1948 wurde er von der Spruchkammer Starnberg als Minderbelasteter eingeordnet, wegen der langen Lagerhaft aber in die Mitläufer-Kategorie heruntergestuft. Auf diese Weise löste sich die Schicht der Systemträger schließlich ins Nichts auf

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