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Die lange Stunde Null in Feldafing:
DP-Lager und jüdischer Friedhof

von Katja Sebald

Anfang Mai 1945, unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Streitkräfte, entstand in Feldafing auf dem Gelände der ehemaligen „Reichsschule der NSDAP“ ein Lager für sogenannte „Displaced Persons“, also für Menschen, die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Krieg entwurzelt waren. Im Sommer 1945 wurden alle nicht-jüdischen DPs auf andere Lager verteilt. So wurde „Camp Feldafing“ das erste Jüdische Lager für Displaced Persons in der US-Zone Deutschlands. Es bestand bis 1953. Die meisten Bewohner hofften hier auf die Rückkehr in ihre Heimatländer oder den Aufbruch in ein neues Leben. Manche konnten es nicht verkraften, als Einzige ihrer Familien überlebt zu haben. Manche wollten selbst nicht weiterleben. Manche blieben mehrere Jahre in Feldafing, manche starben hier an den Folgen ihrer schrecklichen Erlebnisse.

Auf Feldafing war während des Zweiten Weltkriegs keine einzige Bombe gefallen. Man sei nachts oft im Freien gestanden und habe sich „das Feuerwerk über München angeschaut“, erinnerte sich noch Jahrzehnte später eine Bewohnerin der Villenkolonie. Der Einmarsch der Amerikaner in den ersten Maitagen, der vielerorts in Bayern als Befreiung empfunden wurde, versetzte die Bewohner Feldafings in Angst und Schrecken. Bei Androhung schlimmster Repressalien wurden sie gezwungen, innerhalb von zwölf Stunden 2000 Betten in den sogenannten Sturmblockhäusern auf dem Gelände der Reichsschule aufzustellen, vorher mussten die Gebäude – in einigen waren gegen Ende des Krieges Münchner Industriebetriebe ausgelagert gewesen – geräumt und geputzt werden. Alle privaten Haushalte mussten Decken und Bettwäsche abgeben, einige Tage später auch Zivilkleidung. Die Überlebenden der Konzentrationslager sollten auf Anweisung der US-Armee vor dem Betreten der Unterkünfte duschen und mit DDT behandelt werden. Dabei kam es zu schrecklichen Szenen. In einer Gruppe von ungarischen Frauen brach vor den Duschräumen Panik aus, weil sie dachten, sie würden in die Gaskammer getrieben, berichtet die Feldafingerin Ruth Koch, die als Rot-Kreuz-Helferin vor Ort war. Noch Monate später weigerten sich die Bewohner des DP-Lagers, sich mit deutscher Seife zu waschen, schreibt der Holocaust-Überlebende Simon Schochet in seinem Buch über die Zeit in Feldafing, weil sie befürchteten, sie sei aus menschlichen Knochen hergestellt worden.

Das DP-Lager in der ehemaligen „Reichsschule der NSDAP“ war zunächst Anlaufstelle für befreite Häftlinge aus den Konzentrationslagern im Münchner Raum. Für seine Bewohner wurde „Camp Feldafing“ zum Sinnbild für den Beginn eines neuen Lebens. Ernest Landau schreibt, dass die Bewohner selbst versuchten, die anfangs chaotischen Zustände zu ordnen. Sie stellten eine Lagerpolizei auf, später legten sie eine Kartei mit den Namen aller Bewohner an, um im Austausch mit anderen Lagern Familienangehörige und Freunde zu finden. Die Namenslisten wurden als Buch unter dem Titel She'erit Hapletah herausgegeben: Die letzten Überlebenden, so nannten sich die jüdischen Menschen, die den Holocaust überstanden hatten. Das Zentralkomitee der befreiten Juden wurde hier gegründet. In Feldafing wurde in diesen Jahren nicht nur Weltgeschichte geschrieben, es gab auch eine blühende jüdische Kultur.

Für die einheimische Bevölkerung Feldafings aber begannen mit dem Kriegsende die Jahre, die „den Ort an den Rand des Ruins gebracht“ haben, so zumindest die Einschätzung von Ruth Koch. Gleich in den ersten Maitagen sei es zu Plünderungen in einigen Läden und zu Zusammenstößen gekommen, berichtet Ruth Koch: „Mit Genehmigung des Commanders wird eine Einwohnerwehr gebildet, die, mit Armbinden versehen, Posten vor die Geschäfte stellt. Diese sollen bei künftigen Übergriffen die Security-Police benachrichtigen, welche mit einigen Jeeps dauernd auf den Straßen zwischen Lager und Dorf unterwegs und somit erreichbar ist.“ Trotzdem seien die „plündernden Rotten“ kaum zu bändigen gewesen. Sie schreibt: „Man geht mit Rucksack, da man Taschen und Netze sehr leicht loswerden kann, und man meidet die Straße. In den Nachbargärten findet eine heftige Schießerei statt, und die Amerikaner jagen die Juden, die versucht haben, Vieh aus einem Stall zu stehlen, kurzerhand mit scharfen Schüssen die sehr steile Bahnböschung hinunter. Am Nachmittag kommt endlich etwas Ruhe über das Ganze, denn das Schweizer Rote Kreuz hat an jeden Häftling ein 5 kg Lebensmittelpaket verteilt.“  Der Umgang mit den Überlebenden der Konzentrationslager war alles andere als einfach. Viele DPs konnten in den ersten Wochen nichts Anderes tun als essen und schlafen. Sie mussten sich erst wieder an normale Nahrung gewöhnen, oft wurden sie krank davon. Eine Typhusepidemie breitete sich aus.

Schwer heimgesucht wurde Feldafing im Mai 1945 von französischen Panzerverbänden, die drei Wochen lang Quartier am Starnberger See bezogen. Bei ihrem Abzug hinterließen sie eine „verwüstete Ortschaft“, wie Ruth Koch schreibt. Sie hatten mit ihren Panzern Straßen zerfurcht, Hecken durchbrochen und Gärten zerstört. Und nicht nur das: „Überall liegen Munition, Gewehre, Patronengürtel, Maschinengewehrteile, Panzerketten, Geschirr und vieles andere. Durch die erlaubten Quartier-Plünderungen brauchten die Soldaten Platz innerhalb ihrer Fahrzeuge für ihre Beute, deshalb warfen sie ihr Kriegsmaterial kurzerhand hinaus. (…) In der letzten Nacht haben sie sich barbarisch benommen.“ Ruth Koch verlor ihren 12-jährigen Sohn, der auf einer Wiese aus den Hinterlassenschaften der Franzosen einen Stock herauszog – der jedoch eine Phosphor-Handgranate war und explodierte. Er starb wenige Tage später an seinen schweren Verbrennungen.

Auf der anderen Seite stand Feldafing für einen hoffnungsvollen Neubeginn. Ernest Landau, der später unter anderem Chefredakteur der deutsch-jüdischen Zeitung „Neue Welt“ wurde, heiratete im Mai 1945 im Jüdischen DP-Camp Feldafing. Familien fanden hier wieder zusammen, bald wurden Kinder geboren. Im Standesamt der Gemeinde Feldafing haben sich die Geburtsurkunden von über 700 Menschen erhalten, die im DP-Lager geboren wurden und heute in aller Welt leben. Auf dem Schulgelände entstanden eine Synagoge, eine Mikwe und eine Jeschiwa, ein jüdisches Krankenhaus, ein Kindergarten und mehrere Schulen. Die Bewohner spielten Theater, machten Musik, gründeten die Sportvereine Makabi Feldafing und Hapoel Feldafing. Sie gaben die Lagerzeitungen Dos Fraje Wort, Dos jiddische Wort und Unterwegs ins Leben heraus. Es gab sogar eine eigene Währung, den Feldafinger Dollar.

Weit über 6000 Menschen lebten im Sommer 1945 auf engstem Raum im DP-Lager Feldafing.  Im Juni besichtigte Earl G. Harrison, von Präsident Truman als Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen entsandt, die DP-Lager in der US-amerikanischen Besatzungszone. Er berichtete, dass die Überlebenden denkbar schlecht untergebracht und versorgt seien und dass einige von ihnen auch drei Monate nach der Befreiung noch ihre Häftlingskleidung tragen müssten. Es sei unzumutbar, dass einige von ihnen auch nach ihrer Befreiung in den ehemaligen Konzentrationslagern auf ihre Ausreise warten müssten, während die deutsche Zivilbevölkerung in den ländlichen Gebieten weitgehend ungestört in ihren eigenen Häusern leben dürfte.

Im August 1945 wurde in Feldafing die erste Ortsgruppe der jüdischen Auslandsorganisation American Joint Distribution Committee (JOINT) in der amerikanischen Besatzungszone gegründet. Im September kam General Dwight D. Eisenhower persönlich nach Feldafing, um sich ein Bild von den Lebensumständen dort zu machen. Im Oktober besuchte David Ben-Gurion das Camp. Im November übernahm die internationale Hilfsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) die Verwaltung aller DP-Lager in der amerikanischen Besatzungszone. In der Folge wurden in Feldafing zahlreiche weitere Gebäude zur Unterbringung von DPs beschlagnahmt, darunter einige Villen der Reichsschule, aber auch Privathäuser. Ruth Koch schreibt, dass von den 219 Häusern, aus denen Feldafing damals bestand, insgesamt 90 requiriert worden seien.

Der Unmut unter den Einheimischen wuchs. Hatten sie sich zunächst nur über die bessere Versorgung der DPs mit Lebensmitteln geärgert, so mussten sie in den folgenden Monaten zusehen, wie sich auf der Zufahrtsstraße zum Lagergelände, der heutigen Siemensstraße, ein blühender Schwarzmarkt etablierte. Im Herbst mussten viele Feldafinger ihre Häuser räumen, oft konnten sie nur das Nötigste mitnehmen. Im kalten Winter 1945/46 mangelte es überall an Heizmaterial. Die DPs, die nun in herrschaftlichen Häusern wie etwa der Villa Waldberta untergebracht wurden, verheizten in ihrer Not Möbel, Böden und Türen, in die Außenwände wurden Löcher für die Abzugsrohre provisorischer Öfen geschlagen.

Nach der Vorstellung der amerikanischen Militärregierung sollten die DPs sich in Feldafing von den ausgestandenen Qualen in den Konzentrations- und Arbeitslagern erholen und auf eine Rückkehr in ihr jeweiliges Heimatland oder eine Auswanderung nach Palästina oder in die USA vorbereiten. Viele von ihnen waren jedoch durch die vorangegangenen Entbehrungen und Misshandlungen so geschwächt, dass sie die erste Nachkriegszeit nicht überlebten und in Feldafing starben. Sie wurden auf dem neu eingerichteten jüdischen Friedhof neben dem christlichen Friedhof bestattet. In Feldafing finden sich viele Grabsteine, wie sie in osteuropäischen Ländern üblich sind. Es gibt lange Reihen schlichter, in den Boden eingelassener Steine, aber auch einige auffallend große und schöne Grabdenkmäler. Abgesehen von diesen Gräbern erinnert heute in Feldafing nichts mehr an das Lager für Displaced Persons und seine jüdische Kultur. 

Simon Schochet, der bis zu seiner Emigration in die USA in der Villa Waldberta lebte, schrieb zum Abschied beinahe prophetisch: „Ich betrachte das Lager Feldafing genau, die Baracken und die Villen, die Wälder und den See. Eines Tages wird es wieder ein friedlicher Ort sein, voller glücklicher Leute, die hier ihre Ferien verbringen, spielen, baden, ausruhen und Golf spielen. Die jetzigen Einwohner werden vergessen und in der ganzen Welt zerstreut sein. Werden das hier erlebte Glück und das Leid ohne eine Spur zu hinterlassen verschwinden? Wahrscheinlich ja.“

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