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Kurz vor der Stunde Null:
Auf dem Marsch ins Ungewisse

von Katja Sebald

„Eines Tages dann, Ende April 1945, trug sich noch so eine Sache zu, mit der niemand gerechnet hatte. Oben auf der Hauptstraße kamen von Richtung Starnberg her viele, viele Menschen in gestreiften grauen Anzügen. Manche von ihnen hatten eine graubraune Decke umgehängt. Jeder von ihnen hatte eine Nummer oder Buchstaben auf dem Rücken. Die waren auf die Jacken aufgemalt. Die Leute waren dürr, ausgemergelt, oft schwach zum Umfallen, und viele von ihnen waren schon mehr tot als lebendig. Der Zug dieser Leute war begleitet von SS-Männern, schwer bewaffnet, die unbarmherzig durchgriffen, wenn einer zurückblieb oder gar versuchte zu fliehen. Am Anfang wußten wir nicht, woher diese Leute kamen. Dann aber sickerte durch, daß das Konzentrationslager Dachau durch die Deutschen geräumt worden war, weil die Amerikaner immer näherkamen.“

So beschreibt die Höhenrainerin Veronika E. Winkler, die bei Kriegsende noch ein Kind war, den Todesmarsch der KZ-Häftlinge in ihrem Buch Höhenrainer Erinnerungen.

Auf den Dörfern am Ostufer des Starnberger Sees sprach sich schnell herum, dass ein Zug von Häftlingen aus dem KZ Dachau im Laufe des 27. April und der darauffolgenden Nacht von Starnberg über Percha und Berg nach Aufkirchen und weiter Richtung Wolfratshausen gezogen war. Angesichts der herannahenden amerikanischen Truppen breitete sich zunehmend Chaos aus, auch unter den SS-Bewachern herrschte offensichtlich Unsicherheit über Route und Ziel.

Einigen Häftlingen war es in den Wirren gelungen, sich vor Berg vom Zug abzusetzen und sich weiter Richtung Süden durchzuschlagen. Sie brachten die Nachricht von dem Marsch der Häftlinge auch zu den Jesuiten-Patres auf der Rottmannshöhe in Assenhausen. Dort war im ehemaligen Hotel Rottmannshöhe 1920 das erste Exerzitienhaus in der Erzdiözese der Oberdeutschen Provinz SJ entstanden. 1940 war die Rottmannshöhe von der NSDAP beschlagnahmt und das Abhalten von Exerzitien verboten worden. Die Jesuiten mussten in ein Nebengebäude und später in Baracken umziehen, während im Hauptgebäude ein Lager für Aussiedler deutscher Abstammung aus Slowenien, Bessarabien und anderen Ostgebieten eingerichtet wurde. Die Jesuiten waren jedoch weiterhin seelsorgerisch für die Menschen der näheren Umgebung tätig. Der Gymnasiast Leonhard Fuchsenberger recherchierte 2003 für seine Facharbeit am Gymnasium Starnberg zur Rottmannshöhe, unter anderem übersetzte die handschriftlich in lateinischer Sprache verfassten Hausbücher (Historiae Domus und Diaria) der Jesuiten im Oberdeutschen Archiv Archivum Monacense Societas Jesu.

Bereits am 9. April hatte Pater Otto Pies von Ostdeutschen Provinz bei seinen Ordensbrüdern auf der Rottmannshöhe Unterschlupf gefunden, er war wenige Wochen zuvor nach vierjähriger Haft aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden. Auch fünf Ordensleute, die aus Breslau vor der Roten Armee geflohen waren, befanden sich auf der Rottmannshöhe, einer von ihnen war Frater Franz Kreis. Pies und Kreis beschlossen am 28. April, den Häftlingen mit Fahrrädern zu folgen. Kurz hinter Wolfratshausen stießen sie im Wald auf den Häftlingszug. Frater Kreis war in der Uniform eines Oberleutnants gekommen, die er besaß, weil er im Juli 1941, wie alle Jesuiten, als „wehrunwürdig“ aus der Wehrmacht entlassen worden war. Wohl aufgrund der Uniform gelang es den beiden Geistlichen ohne größeres Aufsehen, Kontakt zu zwei Mitbrüdern aus dem Gefangenenzug aufzunehmen und ihnen heimlich Kleider zuzustecken.

Später besorgten sich die beiden Jesuiten einen Lastwagen aus dem Jesuitenkolleg in Pullach, das zu dieser Zeit als Lazarett genutzt wurde. In der Nacht zum 29. April machten sie sich noch einmal auf den Weg. Sie überredeten die Bewacher, mitgebrachte Lebensmittel unter den Gefangenen verteilen zu dürfen. Sie erhielten sogar die Erlaubnis, diejenigen, die nicht mehr weiterkonnten, zur Lazarettbehandlung mitzunehmen. Zwölf Geistliche konnten in dieser Nacht aus dem provisorischen Lager im Wald befreit werden. Sie wurden auf die Rottmannshöhe gebracht und dort versorgt. Auch in den folgenden Nächten befreiten die beiden mutigen Ordensleute auf die gleiche Art noch insgesamt zwanzig weitere Häftlinge und brachten sie mit dem Lastwagen auf die Rottmannshöhe. Unter den Befreiten war auch der Apfelpfarrer Korbinian Aigner.

Die letzten Überlebenden wurden am 2. Mai 1945 bei Bad Tölz und am Tegernsee befreit, als der Todesmarsch von den Panzern der Amerikaner eingeholt wurde. Seit 1989 werden in den Gemeinden entlang der Routen der Todesmärsche die identischen Mahnmale des Bildhauers Hubertus von Pilgrim aufgestellt, um an den Leidensweg der Opfer zu erinnern. Mehr als tausend Menschen starben in den letzten Kriegstagen auf diesem Marsch ins Ungewisse.

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