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Kurz vor der Stunde Null in Bayern:
Todeszüge und Todesmärsche

von Katja Sebald

Am Abend des 26. April 1945 öffnete sich gegen 21 Uhr für rund 7 000 Gefangene das Tor des Konzentrationslagers Dachau. Der Weg der Gefangenen führte jedoch nicht in die Freiheit, sondern ins Ungewisse und für eine sehr große, nicht mehr genau feststellbare Zahl unter ihnen in den Tod. Noch befand sich die Macht in den Händen der SS-Bewacher, die offensichtlich auch angesichts des unmittelbar bevorstehenden Kriegsendes nicht gewillt waren, gegenüber den Gefangenen Menschlichkeit zur Richtschnur ihres Handelns zu machen.

Man hatte alle belastenden Dokumente verbrannt und trieb nun die Gefangenen zu Fuß in Richtung Alpen. Dieser sogenannte Todesmarsch führte über Allach, Krailling, Gauting, Leutstetten, Starnberg, Percha, Aufkirchen, Wolfratshausen, Beuerberg, Bad Tölz, Waakirchen, Gmund bis nach Tegernsee, dort wurden die letzten Überlebenden erst am 2. Mai befreit.

Wegen der Tieffliegerangriffe ließ man die Gefangenen vor allem nachts marschieren. Hunger und Durst quälte die zu Tode erschöpften Menschen. In den Abendstunden des 27. April 1945 schreckte das Klappern und Schlürfen von vielen, vielen Holzschuhen die Menschen in Starnberg und später in den Dörfern am Ostufer des Starnberger Sees auf. „Jetzt werd der Krieg bald gar sein“ beruhigten die Erwachsenen die Kinder. Man hörte Hundegebell und die Befehle der schwer bewaffneten SS-Leute. Zuerst habe man gedacht, die Soldaten kämen aus dem Krieg zurück, erinnerte sich eine Zeitzeugin, dann aber habe man den langen Zug der KZ-Häftlinge in ihren grau gestreiften Anzügen gesehen. Furchtbar hätten sie ausgeschaut, unsäglich mager und ausgemergelt. Viele wurden getragen oder auf Karren gezogen, weil sie nicht mehr konnten.

Man solle sich in Acht nehmen, es seien alles Verbrecher, ließen die Bewacher verbreiten. Die Menschen, die den Zug beobachteten, hatten Angst vor den NS-Schergen, die mit Gewehrkolben und Knüppeln auf die völlig entkräfteten Häftlinge einschlugen, um sie weiterzutreiben, oder ihre scharfen Hunde auf sie hetzten. Er sei immer noch „hundertprozentig für Adolf Hitler“, brüllte einer der Bewacher. Buchstäblich in den letzten Stunden des Krieges starben am 29. April 1945 in Aufkirchen drei Häftlinge einen sinnlosen Tod: Weil sie trotz Schlägen und Hundebissen nicht mehr aufstanden, wurden sie erschossen.

Insgesamt waren mindestens 250 000 Gefangene aus den Konzentrationslagern in den letzten Kriegstagen entweder ohne Nahrung und Wasser auf engstem Raum zusammengepfercht in Eisenbahnwaggons oder aber zu Fuß unterwegs. Wohin genau sie gebracht werden sollten, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Sicher ist jedoch, dass die NS-Schergen mit dieser „Evakuierung“ der Lager die Befreiung der Häftlinge durch die anrückenden Alliierten verhindern wollten. Viele der Gepeinigten starben noch auf den Transporten. Auch wenige Tage oder gar Stunden vor dem endgültigen Untergang des NS-Staates ermordeten die Bewacher erschöpfte Häftlinge oder flüchteten und überließen die Eingesperrten ihrem Schicksal. Als US-Truppen bei Tutzing auf den Transport stießen, in dem sich Ernest Landau befand, hatten die SS-Einheiten längst das Weite gesucht.

Die Soldaten waren zutiefst erschüttert. Sie wollten die völlig entkräfteten, abgemagerten, kranken oder schwer verletzten Menschen zunächst in Tutzing unterbringen, wurden dann aber auf die leerstehenden Gebäude der Reichsschule der NSDAP in Feldafing aufmerksam gemacht. Ein Colonel der US-Armee befahl dem Feldafinger Bahnhofsvorsteher, die Weiterfahrt des Zuges nach Feldafing zu veranlassen. Auf dessen Vorschlag ließ man die zwei aufeinanderfolgenden Züge nicht bis zum Bahnhof fahren, sondern hielt sie direkt oberhalb des Schulgeländes an. Die Überlebenden, die nicht mehr selbst gehen konnten, wurden nun über notdürftig zusammengebaute Rutschen über den Bahndamm transportiert.

Der aus Wien stammende Ernest Landau, später als Journalist beim Bayerischen Rundfunk tätig, hatte mehrere Konzentrationslager überlebt und wurde aus einem der sogenannten Todeszüge von amerikanischen Soldaten befreit:

„Ich wurde in Bayern befreit, zwischen Tutzing und Feldafing. Wir befanden uns gerade auf einem Transport, der irgendwo ins Tirolische gehen sollte, glaube ich, jedenfalls in die Berge, in eine sogenannte Werwolfstellung. Aber so weit kam es nicht. Es war der 1. Mai, der Abend des 1. Mai 1945, wir befanden uns zwischen Tutzing und Seeshaupt, auf der Bahnstrecke, in einem Zug, der aus lauter Güterwaggons bestand. Ungefähr hundert Menschen waren in jedem dieser Waggons eingepfercht.“

Ruth Koch, die ganz in der Nähe lebte, schrieb an Allerheiligen 1945 in einem Brief, der heute im Archiv der Gemeinde Feldafing aufbewahrt wird:

„Spät am Abend, bei beginnender Dunkelheit, kamen graue Schlangen von Menschen am Bahndamm entlanggekrochen, unter strenger amerik. Bewachung, in Trupps von 100 – 150 Mann, eingehüllt in graue Decken, gekleidet in völlig schmutzige, blau-weiss gestreifte Sträflingskleider, struppig, verkommen, unheimliche und finstere Gestalten, Ursache und Sinnblild des deutschen Schicksals, und uns, die wir dies erkannten, stieg das Entsetzen und das Grauen gewaltig vor dem sehenden inneren Auge auf!“

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