Willi Baumeister beim Packen von Bilderkisten
Willi Baumeister beim Packen von Bilderkisten für seine Ausstellung in der Galerie Jeanne Bucher, Paris, 1949, Willi Baumeister Stiftung, Foto Johannes Schubert

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Kurz nach der Stunde Null in Deutschland:
Der Verlust der Mitte

von Katja Sebald

Der Richtungsstreit zwischen traditionell figurativer und abstrakter Malerei wurde in Deutschland nach 1945 mit großer Heftigkeit ausgetragen. Als Wortführer in der Auseinandersetzung um die Moderne sollte insbesondere Willi Baumeister bekannt werden. Im Juli 1950 hatte er an jenem legendären Ersten Darmstädter Gespräch anlässlich der Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit teilgenommen und die moderne Kunst gegen die These des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr vom „Verlust der Mitte“ verteidigt. 

Sedlmayr, der nach 1945 wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft zwangsemeritiert und dann wieder eingesetzt worden war, hatte in seinem 1948 erschienenen Buch Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit dazu aufgerufen, sich auf alte Werte und Ausdrucksformen zu besinnen. Er kritisierte einen „Verlust des rechten Maßes“, der gleichbedeutend mit einem „Verlust des Humanismus“ sei. In Darmstadt hielt er einen Vortrag über „Die Gefahren der modernen Kunst“, in der er ein zum Scheitern verurteiltes Experiment sah, das wegen der fehlenden Bindung an moralische und christliche Werte unweigerlich in ein Chaos abdriften würde.

Verschiedene Kunsthistoriker zeigten Parallelen zwischen der These vom „Verlust der Mitte“ und dem nationalsozialistischen Konzept der „Entarteten Kunst“ auf. Hans Aurenhammer konnte nachweisen, dass Sedlmayr 1939 in seiner Schrift „Die Kugel als Gebäude, oder: Das Bodenlose“ bereits wesentliche Gedanken formuliert hatte, die er 1948 in „Verlust der Mitte“ wieder aufgriff.

Vor diesem Hintergrund ist der Entwurf von Rupprecht Geiger zu einem Manifest für ZEN 49 zu sehen:

„Die Gründung der Gruppe ZEN 49 steht im Zeichen einer scharfen Auseinandersetzung zwischen alter und junger Kunst. Angriffe ewig Rückschauender richten sich gegen die auf den Plan gestellten Farb- und Kompositionsgesetze, gegen die neuen Harmonien von Raum- und Bewegungselementen sowie gegen die entdinglichte Darstellung überhaupt. Die hieraus resultierende geistige Haltung verursacht all jenen Unbehagen, die in dieser unser Einstellung eine Bedrohung ihrer überkommenen Anschauung sehen. (…) Wieder einmal erleben wir das traurige Schauspiel, wie das Spießertum angeht gegen das Naturgesetz ewiger Erneuerung, gegen die Entwicklung der jungen Kunst. (…) Die geistige Situation in Deutschland steht vor ernsten Entscheidungen. Immer noch tragen wir schwer an den Folgen einer zwölfjahrelangen Kulturfinsternis. Die Tradition scheint abgebrochen. (…) Wir kennen diese Leute von gestern nur zu gut, diesmal werden wir es nicht versäumen, wachsam zu sein. Aus der Erkenntnis einer erneut drohenden Gefahr erwächst der Gruppe die Verpflichtung, das neue Gedankengut umso aktiver auch durch Wort und Schrift vorzutragen.  Weiterbauend auf dem Erbe Kandinskys und Klees mag unser Schaffen die notwendig gewordene Unterstützung erfahren…“ – undatiertes Originaldokument im Archiv Geiger.

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